Dieter Kölmel | Kein letztes Wort über Ehehalt

Wo er geht und steht, begleiten ihn immer ausreichend Exemplare der anderen Menschen nicht sonderlich genehmen, sie oft störenden Gattung musca domestica, der Stubenfliege - bald klein und schmächtig, dann wieder vollgefressen und fett. Und sie nehmen Platz, wo er ihnen Platz zu nehmen befiehlt: auf Lampen, Fensterscheiben und Autohecks, in der Straßenbahn und Treppenhäusern, auf Eingangstüren, Taschen und Spiegeln. Nichts und niemand ist vor ihnen sicher, kein Örtchen zu abwegig, als daß sich nicht zumindest eine dorthin verirren und Ahnungslose und Unwissende durch ihre vermeintliche lästige Gegenwart zu Aktionen animieren würde. Irritierender Beweis einer vergangenen Gegenwärtigkeit, wird durch sie vergangene Präsenz wieder schwirrend gegenwärtig. Erinnerung taucht auf. Erinnerung an Wolfgang Ehehalt, den Herrn der Fliegen.

Aber damit hat die Fliege ihre Schuldigkeit noch nicht getan. Denn Wolfgang Ehehalt wäre ein anderer, als der er ist, würde er durch die Fliege, also durch eine Art Negativ- beziehungsweise Abschreckungssymbol allein sein Image, sein künstlerisches insbesondere, aufzuwerten, aufzubauen versuchen, sich quasi tierisch wichtig machen. Das würde Wolfgang Ehehalt gerade einer Fliege nicht zuleide tun.

Da ist ein anderer Sinn hinter dem Sinn.

Bewunderung nämlich für das Insekt äußert sich da - Bewunderung für dessen grenzenlose Fähigkeit der Anpassung an die unterschiedlichsten Zustände und Situationen: Bewunderung auch für das Geschick, allen Nachstellungen und Ausrottungsbemühungen durch den Menschen, von der Fliegenklatsche über dieLeimrute bis hin zur chemischen Keule, eine Nase zu drehen und auf eben der sich schließlich triumphierend niederzulassen - im unfehlbaren Bewußtsein, wieder einmal davongekommen zu sein und überlebt und den sichersten Platz zur Rettung gefunden zu haben. Denn wer schlägt sich schon selber gerne ins Gesicht?

Also wird der Unruhestifter ignoriert - in der Hoffnung, daß er Ruhe geben werde. Doch genau davon kann keine Rede sein. Er schwirrt weiter und weiter, und wo er sich unversehens niederläßt, da reagiert man auf ihn, schlägt nach ihm, setzt diffizilere Mittel ein, um ihn loszuwerden. Schließlich tut man wieder so, als ginge einen das alles überhaupt nichts an.

Wie dem auch sei: Jede Reaktion ist wichtig, weil sie zeigt, daß die Aktion nicht unbemerkt geblieben ist, daß die Begegnung zu einer Berührung geführt hat, daß der Reagierende infiziert worden ist. Denn Fliegen sind Bazillenträger. Das haben sie mit der Kunst gemein. Auch deren Produkte wie Ideen schwärmen aus, belästigen, verunsichern, bis man auf sie reagiert: nach ihnen schlägt, sie auszumerzen trachtet. Auch Kunst ist ein ständiger Unruheherd, an dem man sich infizieren kann: mit Unruhe, mit Gedanken, die man vorher nicht gedacht hat. Die "optische" Duftmarke der Fliegen-Bäpper, die Wolfgang Ehehalt allerorten verbreitet, sie ist als eine stille Aufforderung an die Zeitgenossen zu verstehen, es dem kleinen, unterschätzten, frechen Insekt in punkto Neugier, Aufgeschlossenheit, kritischer Distanz und Unvoreingenommenheit gleichzutun. So besehen, wird hier die Fliege zum Symbol für geistige Unruhe. Und frech und respektlos wie die Spezies nun einmal ist, wird sie auch mit dieser Belastung fertig. Mehr noch: Unverfroren-dreist breiten sich die sechsfüßigen schwarzen Schwarmgeister über Leinwände und Objekte aus und saugen aus den Farbklecksen und Abfallspuren, die andere hinterlassen haben, die Kraft für ihren fröhlichen Widerstand.

Von diesem Ausgangspunkt aus betrachtet, nimmt sich die Wahl der Materialien, mit denen Wolfgang Ehehalt arbeitet, die er in seine Bilder und Objekte einbaut, nur logisch aus. Es handelt sich um Müll, um Abfall, der auch auf Fliegen eine besondere Anziehungskraft hat. Alles das, was die Wegwerfgesellschaft hat fallen lassen, interessiert ihn gerade besonders: Flaschenkorken und Glasmurmeln, Plastikbesteck und Senftuben (aus denen später dann der schwarz-rot-goldene Einheitsbrei quellen wird), Dosen, Knöpfe, Illustriertenbilder, Annoncen, Prospekte, Fahrkarten, Dauerlutscher, Knäckebrot, Münzen, Wurstpellen, Playmobilfiguren, Federn. Nichts ist so bedeutungslos, daß es sich nicht einer Bedeutung zuführen ließe. Da steht Wolfgang Ehehalt dem Mann mit dem Filzhut ganz nahe, der Röhren, Bleche, Batterien, Fett und Mauerbruch in die Museen häufte, um Kunstbegriffe aufzubrechen und jedes menschliche Tun zum Kunstwerk zu erklären. Der freie Flug der Gedanken, die Phantasie - bei Wolfgang Ehehalt hat sie oft Flügel und strebt aus den Bildern hinaus...

So ideologisch-revolutionär wie bei Beuys geht es bei Wolfgang Ehehalt nicht zu. Doch auch nicht weniger politisch und bewußt. Indem er das aufliest, was andere weggeworfen haben, kritisiert er unaufdringlich-deutlich das Verhalten der Zeitgenossen, die das olympische "Schneller, Höher, Weiter" zur Maxime und allein gültigen Lebensphilosophie auch im privat(wirtschaflich)en Bereich erhoben haben. Die Gier der Satten macht den Hunger der Zuschauenden noch größer: was hier weggeworfen wird, könnte andernorts Menschenleben retten. Und die heute umgehende Furcht vor einer Verselbständigung der Staatsmacht und ihrer Repräsentanten, die hat in seiner Version von Rembrandts "Mann mit dem Goldhelm" ihren Niederschlag gefunden: Schemenhaft schwingt da ein Mann mit Polizistenhelm drohend seinen Knüppel...

Reaktion eines Zeitgenossen, Erinnerung an eine Wirklichkeit, die sich immer wieder vor die künstlerische Phantasie schiebt, sie überlagert. Der Künstler wird so zum Berichterstatter seiner Zeit, auf deren Erschütterungen er sensibel reagiert.

Natur erscheint im Gesamtwerk Wolfgang Ehehalts, wenn sie auch selten nur so unverstellt wie in jener Bretagne-Zeichnung aus dem Jahre 1976 auftaucht, als etwas Schützenswertes. Zerbrechliche Ehehaltsche Vögel flattern über die Leinwände oder lassen sich zu neugieriger Ruhe auf Bilderrahmen und Stuhlbeinen nieder. Und wenn sie auf Objektkästen am Beispiel eines Apfels - über den Butzen als Zwischenstand, bis hin zu den eindeutigen Schleifspuren über Holz und Glas als Ergebnis eines Verdauungsvorgangs (an dem sich wieder die Fliegen gütlich tun) - die Vergänglichkeit aller Dinge vor Augen führen, dann kommt eine andere Qualität Wolfgang Ehehalts in den Blickpunkt, die in der heutigen Kunst mit ihrem tierischen Ernst und ihren bedeutungsschweren Inhalten, ihren Messiassen, Gurus und Scharlatanen Seltenheitswert besitzt: sein feiner Humor, sein Witz,
sein Sinn für den Hintersinn, für die Satire.

Unauffällig und verschmitzt ist diese Art des Kunstmachens, die im gesellschaftspolitischen Witz, der gezeichneten Satire des 18. und 19. Jahrhunderts ihre Vorläufer hat; und sie hat sich jenen Spieltrieb bewahrt, der dem Menschen mit dem Fortschritt, mit der Entwicklung abhanden gekommen ist. Diese Kunst will bewußt machen, ohne zu verletzen. Welches Vertrauen Wolfgang Ehehalt in den menschlichen Geist, in seine Kreativität setzt, daß Phantasie über die Kunst auch das Unmögliche zu machen vermag, dafür stehen die grünen Triebe, die er aus totem Pinselholz sprießen läßt. Ein schöneres, genaueres Bild für Optimismus, für die Kraft des Geistes, der Vergänglichkeit zu überwinden in der Lage ist, läßt sich in der Kunst kaum finden. Die Kreativität als das Prinzip Hoffnung, das dem anderen, dem dunklen Bereich des menschlichen Geistes entgegenwirkt: dem Zerstörungs- und Machtdrang.

Dieser Hintersinn bewahrt Wolfgang Ehehalt auch davor, sich selber zu ernst und zu wichtig zu nehmen. "Untersuchung in eigener Sache" steht deshalb unter einem Triptychon, das die "Menschwerdung des Affen" in drei Stufen nachvollzieht. Und: "Wichtiger Hinweis: Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig".

Nicht zufällig indessen ist, daß auf den Bildern Wolfgang Ehehalts der Mensch weitgehend fehlt. Er hat sich gleichsam selber eleminiert oder wird als Karikatur seiner selbst von einem munter durch die Bildlandschaft fegenden Keiler wie die Kegel durcheinander und hinweg gewirbelt. Übrig bleiben nur die leeren Kleiderhüllen an den Wänden, denen ihr menschliches Inneres abhanden gekommen ist. Die Spuren allerdings, die diese verschwundene Menschheit hinterlassen hat, sind unübersehbar: als tatsächliche und geistige Umweltverschmutzung. Gerade da aber schließt sich der Kreis. Ohne Menschen kein Abfall, ohne Abfall keine Fundsachen. Was Wolfgang Ehehalt macht, ist Gebrauchskunst in des Wortes doppelter Bedeutung: Kunst für den Gebrauch wie auch Kunst, die von Gebrauchtem lebt. In beiden Fassungen vermag sie sich neben jeder Kunst-Kunst renommierter Kollegen zu behaupten.

Trotz dieser Aktualitäten, die sich immer wieder in das Werk schieben, ist Wolfgang Ehehalt keiner Mode hinterhergelaufen, keinem -ismus. Mit einer bescheidenen Beharrlichkeit ist er sich und seinen Themen treu geblieben. Ein Außenseiter im Lande - keiner Gefährdung ausgesetzt, schon gar nicht der des Erfolgs. Das mag seinen Grund auch in der engen Beziehung haben, die Ehehalt zu seinen Bildern und Objekten hat. Nur schwer trennt er sich von einzelnen Stücken; immer gibt es etwas zu verbessern, zu richten, aufzufrischen. Die Abnabelungsprozesse können oft Jahre dauern. Und mutige Versuche, den Markt in größerem Umfang auf sich aufmerksam zu machen, sind sympathisch kläglich gescheitert - nicht zuletzt an der Ehrlichkeit, mit der Wolfgang Ehehalt im Dachjuché in der Stuttgarter Tannenstraße 3a seine Arbeit betreibt. Gerade das aber, fürchte ich, wird ihn eines Tages wohl für den Kunstmarkt doch interessant machen, der immer versucht, Einzelgänger einzufangen.

Ob er will oder nicht: Wolfgang Ehehalt wird seiner "Entdeckung" wohl kaum entgehen.

Ich weiß nicht, ob ich ihm das wirklich wünschen soll ...

[80er Jahre]